Erinnerungen an das Hören
Wenn die Apparate des Hörens andere werden, dann verändert sich auch die akustische Erzählung.
Heiko Martens
Episode 06 /
Von Alfred Behrens und Matthias Baxmann
Kurzfeature (8’01) mit Andreas Meinetsberger, Lutz Volke und Matthias Baxmann
Die drei Protagonisten erinnern sich an ihre ersten radioakustischen Hörerlebnisse und daran, wie diese zu ihrer Passion geworden sind.
Episode 05 / Von Johannes Brüning
„Bitte schneiden, bitte schneiden“
Mit diesem noch aus der Wachsplattenzeit stammenden Kommando an die Aufnahmetechniker im Studio machte ich meine erste Bekanntschaft mit dem Rundfunk. Das war 1949. Die bekannte Redakteurin Eva Baier-Post hatte mich 8-jährigen Musikus zu meinem ersten Interview in den Berliner Rundfunk, Hans Poelzigs berühmtes Funkhaus an der Masurenallee, eingeladen. Radio, das war für den kleinen Jungen Johannes aus dem Dorf Röntgental bei Berlin bisher nur ein polierter Kasten auf dem Küchenschrank. Und nun befand ich mich selbst da drin in diesem „Kasten“, einem großen Bau mit glänzender Fassade. Was gab es da alles zu sehen: In der Eingangshalle der geheimnisvolle Paternoster, lange gebohnerte und schier endlose Flure, rote Leuchtschilder mit der Aufschrift „RUHE AUFNAHME“ über vielen und geheimnisvollen Türen, aus denen manchmal Klangfetzen nach draußen drangen.
Johannes Brüning, 1950
„Bitte schneiden, bitte schneiden!“ Das galt jetzt auch mir. Toningenieur, Tontechnikerin (ja, die gab es damals noch!), kurz: die ganze Studiomannschaft wusste, jetzt wird es ernst. Und ich wußte es auch: Ruhe, volle Konzentration, Aufnahme läuft, das Mikrofon ist offen. Ich dachte mir: Was du jetzt sagst oder spielst geht über den Sender, Vater und Mutter können Dich zuhause im Radio hören. Jetzt bloß keinen Fehler machen. „Bitte schneiden, bitte schneiden!“, Worte, die für ein langes Leben mit Musik und Technik bestimmend waren.
Johannes Brüning
Zentrum für analoge Rundfunk-Tontechnik
Episode 04 / Von Carina Pesch
Erinnerungen sind merkwürdige Geschöpfe – die an das Hören sind das auf ganz eigentümliche Weise. Sie lassen sich schwerer fassen, auf den Punkt bringen, haben meist etwas mit einem Gefühlszustand zu tun, mit Assoziation.
Das erste, das ich in meiner Erinnerung höre, ist die Stimme meiner Oma. Sie sagt „Hörst du nicht?!“ – Dieser hilflos, gereizte Tonfall. Ein innerliches Lächeln meinerseits. Die tiefe, voluminöse Stimme meines Opas, während ich mein Ohr auf seinen dicken Bauch drücke.
Dann erinnere ich mich an Erinnerungen meiner Mutter. Ich höre sie sogar. Ich singe im Auto, nach Italien, stundenlang: „Heidi, deine Welt ist das Abflussrohr…“ Ich erinnere mich nicht wirklich, nur an die Erzählung von dieser Erinnerung von einer anderen Person. Aber ich höre dabei meine quäkige Kinderstimme.
Die kenne ich. Von einem Diktiergerät, das mir mein Opa unter die Nase hielt, sobald ich sprechen konnte. Gequäke, schiefes Singen, Gedichte zu Weihnachten. Immer wieder die Aufforderung: Sag mal was, sing mal was. Das Beschämen, das Unwohlsein dazu. Und dann das Lob. Er schenkte mir das Gerät mit den Mini-Kassetten zum 18. Geburtstag. Endlich Freiheit. Heute denke ich dabei an Hermann Bohlens Collage „Sag doch auch mal was! …“ Nicht nur für die 60er Jahre ein typisches Phänomen. Zumindest meine Familie hielt auch in den 80ern noch daran fest.
Und dann zu Weihnachten das erste Aufnahmegerät – My first sony. Plastik. Rot. Gelb, Blau. Noch mehr Rot. Mit Henkel, Mikrofon und Kassette. Ich liebte das Gerät, schleppte es überall hin. Was ich aufnahm? … Nahm ich überhaupt etwas auf? … War das Beschämen, das Unwohlsein, ausgelöst durch das Diktiergerät, zu groß? – Egal. Dass das Mikrofon dran war, war wichtig. Kann sein, dass ich hineinsprach ohne aufzunehmen. Aus den Löchern im Plastik drang Benjamin Blümchen. Und mein Lieblingshörspiel „Mensch, Mädchen“ vom GRIPS Theater.
Der riesige Fernseher im Wohnzimmer. In seinem Holzfurniergehäuse. Mit seiner gebogenen milchig-grauen Scheibe. An guten Tagen maximal drei Programme. Bildrauschen – schwarz-weiß. Dazu akustisches Rauschen. Es veränderte sich, wenn ich an dem großen Drehknopf drehte. Und dann das Piepen und das Testbild. Der Fernseher lief zu Hause nie. Er stand nur da. Der Raum krümmte sich in der gebogenen Scheibe. Eine andere Welt. Manchmal spielte ich heimlich mit dem Drehknopf und war begeistert vom Rauschen. Einmal bekam ich für wenige Minuten ein Konzert rein – „Live is Life… nananana“. Die Mutter hängte im Keller Wäsche auf. Schlüssel im Schloss. Schnell das Gerät aus. Es verabschiedete sich mit einem sich selbst verschluckendem Geräusch.
Die Jugend wurde eingeleitet mit Queen-Kassetten und einer Nena-CD. Dann: die Zeit des Ghettoblasters. „No, no limit“. Bravo Hits. Grunge. Dann Punkrock.
Noch in der Studienzeit stand der Ghettoblaster in meiner Küche. Der Motor vom CD-Player schwächelte. Ich schubste ihn an. Schnell den Deckel zu und auf Play drücken. Auch ein sehr besonderes Geräusch. Viele technische Hörerinnerungen sind Erinnerungen an Improvisationen – wegen der schlechten technischen Ausstattung. Assoziationsraum.
Irgendwann funktionierte auch das CD-Anschubsen nicht mehr. So kam ich über meine alten Queen und Benjamin Blümchen Kassetten zum Radio. Kalter Wintertag. Schnitzen vor der Heizung. Deutschlandradio Kultur. Ein Radiofeature über die Unbeständigkeit der Architektur, erzählt aus der Zukunft, als Museumsbesuch. Sofort wieder begeistert von akustischer Narration. Bis heute. Spielwiese. Andere Welten.
Carina Pesch
Mai 2017
Episode 03 / Von Heiko Martens
Von Sharp bis Serial
Der erste Radio-Apparat meiner Kindheit war ein dunkelbrauner Sharp GF 5454, der neben der Möglichkeit skurril-surrealer Ausflüge in die Gefilde von MW, SW und LW vor allen Dingen auch einen Kassettenrekorder besaß. Das dürfte Ende der 1970er Jahre gewesen sein, vielleicht auch ein wenig später.
Es dauerte allerdings noch ein wenig, bis das Radio zum Einsatz kam. Zunächst mussten Leerkassetten entdeckt werden, von BASF, später TDK, weil die besser waren. Erst 2x45min Laufzeit, dann 2x60min Laufzeit, weil da mehr drauf passte. Die 120er haben den Sharp dann auch irgendwann aufs Altenteil gebracht. Wenn’s einmal leiert – vergiss es.
Vorher aber fleißig genutzt. Drei Fragezeichen bis Folge 28 notariell verbürgt. Dazu H.G. Francis Gruselserie von Europa, bis auf Insel der Zombies, die war irgendwie immer überall aus, Larry Brent, John Sinclair von Studio Braun, Jungskram. Benjamin Blümchen geduldet – kleine Schwester. Fünf Freunde nicht recht gelandet. TKKG regelrecht verachtet – der Rückblick sagt „zu Recht!“, was für ein erzkonservativer, ja, rassistischer Unfug.
Irgendwann als Teenager dann die Kassetten auf dem Flohmarkt verscherbelt, nur um die Erinnerungen 15 Jahre später als CD neu zu kaufen. Heute alle Folgen bis 125 auf MP3. Die CDs im Original verstauben neben der Anlage im Wohnzimmer.
Die ersten 30, 40 Folgen kann ich heute noch mitsprechen. Wie die kirchliche Eucharistie-Feier als Katholik, das verlernt man auch nicht – nur ändert sich dort immerhin der aktuelle Bischof von Zeit zu Zeit.
Ein kurzer pädagogischer Eingriff in Richtung des öffentlich-rechtlichen Kinderhörspiels versumpfte übrigens grandios. Wenn ich das heute höre, sage ich mir „zu Recht!“. Es gibt Kinderhörspiele für Erwachsene, die Kinderhörspiele gut finden. Und es gibt Kinderhörspiele.
Dann kam das Radio. NDR2, mit zwei Fingern auf der Play- und auf der Record-Taste. Der Ärger über profilierungssüchtige Radiomoderatoren, die in das Finale von Falcos „Jeanny“ reinquatschten, war generationsbedingt immens, nur hauchdünn übertroffen von elterlichen Fernsehverboten. Und man lernte, die Anfänge von Popmusikstücken zwecks Mitschneiden in Sekundenbruchteilen zu erkennen – eine Fähigkeit, die auch heute noch beim Überleben hilft.
Mixtapes werden nur wenige Jahre später unerlässliches Kommunikationsmittel unter Freunden, mitunter emotionaler gestrickt als das gesprochene Wort. Als die CD kam, war das Alter schon fast wieder vorbei, die spätromantische Epoche wird offenbar getauscht gegen Tweets, Memes und vom Tisch rutschende Katzen auf Youtube – muss ich mutmaßen, mache ich eher nicht mit. Man wundert sich kaum, dass nach der Aufklärung wieder Dunkelland ansteht und kaum eine/r der Nachrückenden sich zu wehren scheint.
Das Hören ist mittlerweile beim iPod-Classic gelandet – 160 Gigabyte Festplatte, zur Hälfte gefüllt mit Musik, dann noch mal rund ein Drittel Hörspiele jeglicher Spielarten, von „Achternbusch, Herbert“ bis „Zombies, Insel der“. Damit fühle ich mich fast erneut als Kind alter Schule, weil Besitz noch nicht durch Verfügbarkeit abgelöst wurde.
Neulich im Café allerdings habe ich das Gerät nicht einmal mehr herausgeholt, sondern durch eine Youtube-Playlist ersetzt, die über den Rechner lief. Als die Arbeit getan war, folgte der Podcast Serial in zweiter Staffel, Folge 5, ebenfalls über das Netz.
Kann ich nicht auswendig mitsprechen, übrigens. Zu Recht? Weiß nicht.
Heiko Martens
Februar 2017
Episode 02 / Von Kristina Mareike Almedom
Die Record-Taste
Zuerst habe ich meine Mutter singen gehört. Dann habe ich die Lieder gelernt und mitgesungen. „Der Herbst ist da“ und „Oh Tannenbaum“. Meine Mutter hat das aufgenommen – mit einem Aufnahmegerät, das sie von der Arbeit mitgebracht hatte. Die Kassette hat sie dann zu Weihnachten an Oma und Opa geschickt.
Unsere HiFi-Anlage war ein Telefunken-Hifi-Studio-1M-Gerät. Silberfarben und mit einem FM/AM-Tuner sowie einem Kassettendeck. Die Record-Taste war aber nur für Mitschnitte aus dem Radio verwendbar, sofern ich mich richtig erinnere. Ich glaube nicht, dass man ein Mikrofon an die Anlage anschliessen konnte.
Sonntags wurde im Wohnzimmer gefrühstückt. Meine Vater wollte dann Klassik-Radio hören, weil er es von früher von zu Hause so gewohnt war. Meine Mutter fand das spiessig, ließ ihm aber diesen nostalgischen Moment. Natürlich nicht, ohne zu sticheln. Um 10 Uhr gab es dann eine Kindersendung, die ich mir anhörte, während ich um den Couchtisch herum auf dem kratzigen weissen Teppich spielte und mein Vater Zeitung las. Ich kann mich mit Sonntagen bis heute nicht so recht anfreunden.
Es gab auch einen Plattenspieler und Schallplatten. Die zeugten von einer Zeit, in der meine Eltern noch cool waren und wurden wohl seit meiner Geburt oder auch erst kurz danach missachtet und verstaubten. Warum werden Menschen so uncool, wenn sie Eltern sind? Das fragte ich mich aber erst später. Als ich die Schallplatten bewusst entdeckte. Als das was sie waren: Zeugnisse einer Lebenseinstellung, eines Zeitgeistes, einer Mode, eines Gefühls, das man sich anhören und nachempfinden kann – und auch wieder vergessen.
Erstmal bekam ich einen eigenen Kassettenrecorder mit eingebautem Mikrofon. Der Recorder war so gross wie ein dickes Buch und nicht viel schwerer. Man konnte ihn überall mit hinnehmen und benutzen, wo es eine Steckdose gab. Die Record-Taste war rot. Ich dachte mir Geschichten aus und sprach die Stimmen der Figuren alle selbst ein. Ich machte Geräusche dazu mit Dingen aus der Wohnung oder holte sie mir aus anderen Hörspielen, die ich auf dem Telefunkengerät abspielte, während ich mit meinem Recorder daneben stand und rechtzeitig die Record-Taste drückte.
Die Geschichten handelten meistens von Abenteuern eines kleinen Mädchens. Manchmal hatte sie Freunde. Pferde kamen vor und schlechtes Wetter. Es mussten böse Erwachsene ausspioniert werden. Ich stelle mir diese Akustischen Geschichten im Nachhinein wie eine Mischung aus „Wendy“ und „TKKG“ vor. Genau erinnere ich mich nicht und ich finde es schade, dass niemand diese Kassetten aufgehoben hat. Mann, Mama!
Bis ich irgendwann einen Kassettenrecorder mit doppeltem Deck und Radio bekam. Damit konnte man sogar direkt von einer Kassette auf die andere aufnehmen. Ich war mittlerweile zehn Jahre alt und begann, mich für Musik zu interessieren. Musik mit englischen Texten. Coole Musik. Lifestyle.
In der Bibliothek konnte man sich Kassetten ausleihen und zu Hause dann überspielen. Ich lieh mir aus, was es dort gab. Zum Beispiel Enigma und New Kids On The Block und andere Plastikmusik, die ich interessant fand, aber auch nicht so richtig mochte.
Ich entdeckte die Schallplatten meiner Eltern: Bob Dylan, Franz Joseph Degenhardt, Joan Baez, die Beatles, die Stones… meine Mutter hatte sich Ende der Siebziger/Anfang der Achtziger sogar richtig cooles Zeug wie Whodini, Kraftwerk und TonSteineScherben gekauft. Mit Bob Dylan habe ich dann Englisch gelernt.
Und dann kamen die CD´s. Und Mini-Disc. Schliesslich MP3.
Bob Dylan hat den Nobelpreis für Literatur bekommen.
Einen Plattenspieler und die Platten meiner Mutter habe ich immer noch. Sie verstauben neben meinen eigenen Platten, den Kassetten, Mini-Discs und CDs. Die MP3 verstauben nicht. Irgendwie fehlt mir da was. Sie sind so unsichtbar.
Kristina Mareike Almedom
Januar 2017
Episode 01 / Von Alfred Behrens
Der erste Radio-Apparat meiner Kindheit war ein schwarzer Bakelit-Kasten mit eingeprägtem Hakenkreuz.Wenn ein Gewitter über die Elbe kam, aus den südlichen Marschen über das nördliche Hochufer der Geest, dann zog mein Vater den Stecker raus. Der zweite Rundfunk-Empfänger meiner Kindheit war ein Grundig-Super; braunes Schleiflackgehäuse, goldene Zierleisten, weiße Wellentasten, ein grünes Magisches Auge zur Optimierung der Senderwahl per Drehknopf. Auf der Leuchtskala unzählige Namen – Beromünster/ Limoges/ Athlone und so weiter.
Wir haben den Nordwestdeutschen Rundfunk gehört, meine Eltern und ich, den NWDR. Wir haben AFN und BFN gehört, mein großer Bruder und ich, das American Forces Network aus Bremerhaven, das British Forces Network aus Munster/ Lager – wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht.
Im Grundig-Super in der Hamburger Küche ist Josef Wissarionowitsch Stalin gestorben, mehrere Tage lang. Nachdem ich den Apparat mitgenommen hatte zum Studium nach West-Berlin – da ist in diesem Empfänger auch noch John Fitzgerald Kennedy gestorben. In Downtown Dallas. Gehört habe ich seinen Tod in Berlin-Wilmersdorf, Fasanenstraße Ecke Ludwigkirchstraße.
Nach London habe ich dann 1967 ein kleineres Rundfunkgerät mitgenommen; einen DUAL-Plattenspieler und einen Tonbandkoffer Grundig TK 14. Oder 19? Den Umzug aus Kreuzberg nach Chelsea hat die BBC bezahlt, der German Service. Ich war aus der Fasanenstraße an den Mariannenplatz gezogen und hatte im Norden die Mauer und im Süden den Landwehrkanal. In Chelsea dann 5o Meter nördlich die King´s Road und 1oo Meter südlich die Themse.
Das Third Programme war eine Enttäuschung. Lichtblick: John Peel mit seiner Sendung The Perfumed Garden.
Alfred Behrens
Berlin-Wilmersdorf, 31. Oktober 2o16